Das Papsttum als Antichrist?
Wie Luthers Bruch mit Rom unausweichlich wurde
Von Christoph Berger
Um das Jahr 1500 hatte das Papsttum sich selbst in ein schlechtes Licht gerückt. Die Geschehnisse rund um den Gang nach Canossa (11. Jh.), die Kreuzzüge (11. – 13. Jh.) sowie das große päpstliche Schisma (14. – 15. Jh.) hatten das weltliche Machtstreben Roms mehr als deutlich werden lassen. Auf verschiedensten Wegen versuchte man, die Macht des Heiligen Stuhls zu stärken. Papst Nikolaus V. bemerkte, dass die Angst vor der Hölle nicht die einzige Möglichkeit wäre, Menschen gefügig zu machen, sondern dass auch monumentale Bauwerke die päpstliche Autorität stärken würden.[1] Die daraus folgende Phase intensiver Bautätigkeit verstärkte die zunehmende Veräußerlichung des Glaubens. Fast alle Renaissancepäpste waren durch Bestechung des ehrwürdigen Kardinalskollegiums ins Amt gekommen.[2] Nie war das päpstliche System der Stellvertreter Gottes irdischer als in dieser Zeitenwende.[3] Der katholische Historiker Joseph Lortz fasst zusammen:
Die Reformation war unvermeidlich, die katholische Kirche ist schuldig am Verfall der damaligen Christenheit.[4]
So dachte der junge Martin Luther natürlich nicht, noch lange nicht! Er verehrte den Papst und die römische Kirche als von Gott eingesetzt. Doch durchlebte er über mehrere Jahre einen Prozess schwerer innerer Kämpfe, der ihn Schritt für Schritt zu einer ganz anderen Sichtweise führen sollte.[5]
Erste Zweifel an Rom
Bei seiner Romreise im Jahr 1510 wurde Luther der Formalismus innerhalb der Kirche zum Anstoß. Das Tempo, mit dem „rips raps“ die Messe abgehalten wurde, „als wäre sie ein Gaukelspiel“[6], widerte ihn an. Beim ersten Anblick der „Heiligen Stadt“ rief er noch aus: „Sei gegrüßt, heiliges Rom!“, später hieß es:
Ist irgendeine Hölle, so muss Rom darauf gebaut sein; denn da gehen alle Sünden im Schwang.[7]
Hier begann in ihm ein Sinneswandel,[8] und seit etwa 1515 erschien ihm eine Reformation der Kirche immer dringender.[9]
Die Konsequenzen seines sogenannten Turmerlebnisses (zwischen 1512 und 1517), bei dem er das Evangelium als Erlösung allein aus Gnade ohne die Mitwirkung des Menschen wiederentdeckte, waren Luther nicht sogleich aufgegangen.[10] Erst mit der Zeit wurde ihm deutlich, dass das Evangelium den unbiblischen Heilsweg der römisch-katholischen Kirche aufdeckte. Mit seinen Messen, Priestern und der Heiligenverehrung war hier ein System geschaffen worden, das sich an die Stelle Christi setzte und somit im eigentlichen Wortsinn antichristlich war (siehe 2. Thessalonicher 2,3-4; Daniel 8,9-14).
Die Auseinandersetzung mit dem Papsttum setzte dort an, wo der biblische Glaube am schlimmsten entstellt worden war: beim Nachlass der zeitlichen Sündenstrafen („Ablass“). Jesus hatte reuigen Sündern bereitwillig und ohne weitere Forderungen vergeben. Die römisch-katholische Kirche dagegen redete den Menschen ein, sie müssten trotz Beichte und Bußwerken nach dem Tod noch eine Zeitlang im Fegefeuer von ihren Sünden geläutert werden. Wer diesen Qualen entkommen oder sie zumindest verkürzen wollte, musste mit Geld oder durch bestimmte Handlungen einen kirchlichen Ablassbrief erwerben. Der Ablass wurde zuweilen auch als Erlass der Sünde selbst verstanden, also als Anspruch auf Absolution (Vergebung der Sünde) durch den Priester.
Ablässe schienen ein Freibrief zum Sündigen bis zum Tode zu sein.[11] Der Legende nach versprach Tetzel, dass er sogar jemanden, der sich an der Jungfrau Maria vergangen habe, freikaufen könne.[12] Tetzel war aber nur ein ausführendes Organ. Die Kirche hatte die Gnade Gottes zu einem Handelsgut herabgewürdigt[13] und war längst ein riesiges Kaufhaus geworden.[14]
Eine wachsende Überzeugung
Als Luther 1517 die 95 Thesen anschlug, ging er noch fest davon aus, dass der Papst nichts von diesen Missständen wusste[15] (siehe These 50, 55, 70 und 91), im Gegenteil: Er rief ihn sogar als oberste Instanz an (These 73 und 74), weil die gotteslästerlichen Anmaßungen der Ablasskrämer ihn mit Entsetzen erfüllten.[16] Später schrieb er:
Ich war so trunken, ja beinahe ertrunken in den Lehren des Papstes, dass ich ganz und gar bereit gewesen wäre …, alle zu töten oder beim Mord derer mitzuhelfen und ihn zu billigen, welche auch nur mit einer Silbe den Gehorsam gegenüber dem Papst verweigerten.[17]
Im Februar 1518 verfasste Luther allerdings Erläuterungen zu den 95 Thesen, die über seine ursprünglichen Aussagen hinausgingen. Er bestritt z. B., dass ein Sakrament durch bloßen Vollzug wirke und gerecht mache, womit er den mittelalterlichen Sakramentsbegriff völlig umwarf.[18]
Beim Verhör im Herbst 1518 belehrte Kardinal Cajetan Luther in Augsburg darüber, dass der Papst über der Bibel und dem Konzil stehe.[19] Der Streit um den Ablass entwickelte sich hier zu einer Grundsatzfrage über die päpstliche Autorität. Luthers Zweifel am Papsttum wurde nach dem Verhör größer,[20] obwohl er auch jetzt noch ein Befürworter der römischen Kirche blieb.
Knapp einen Monat später ließ der Pontifex eine Urkunde über den Ablass verfassen, in der bestätigt wurde, dass der Papst sehr wohl Sünden vergeben und zeitliche Sündenstrafen erlassen könne (widerspricht These 6 und 22). Damit war die Ablasspraxis theologisch entschieden und nicht mehr zulässiger Gegenstand des Gelehrtenstreits. Und die Kirche hatte nun eine Grundlage, gegen Luther vorzugehen.[21]
Als Luther mit Wenzeslaus Linck darüber nachdachte, wer der wahre Antichrist sei, kam er zu folgendem Ergebnis:
Ich glaube inzwischen, nachweisen zu können, dass Rom schlimmer ist als die Türken.[22]
Ende 1518 wird diese Erkenntnis für Luther immer mehr zur Gewissheit.[23]
Johannes Eck trat Luther 1519 mit der Überzeugung entgegen, dass allein der Papst befugt sei, die Heilige Schrift auszulegen. Damit drängte er Luther dazu, die Heilsnotwendigkeit des päpstlichen Primats und die Irrtumslosigkeit der Konzilien zu leugnen. Luther stellte treffend fest, dass der Papst, wenn er über der Schrift stünde, schlimmer als Luzifer und alle Ketzer sei, die nur die Gleichheit mit Gott gesucht hätten, aber nicht die Herrschaft über ihn.[24] Eck zu Luther:
… wenn ihr glaubt, ein rechtmäßig versammeltes Konzil könne irren und habe geirrt, so seid ihr mir wie ein Heide und Zöllner.[25]
Eck sah Luther hier als Ketzer überführt und in einer Linie mit Hus, den Luther zu diesem Zeitpunkt der Leipziger Disputation selbst noch für einen Ketzer hielt. Aus dem Streit über Ablasswesen und Erlösungslehre war ein zweiter, noch grundsätzlicherer Widerspruch erwachsen, der an den Grundfesten der Papstkirche rüttelte: Es ging darum, ob die Bibel oder Päpste und Konzilien Glaubensgrundlage des Christen sind.[26] Eck erwirkte in Rom den Bann über Luther.
Die Erkenntnis wird zur Gewissheit
Bezüglich Hus schrieb Luther Mitte Februar 1520 an Spalatin:
Ich habe unbewusst bisher alle seine Lehren vorgetragen und behauptet … Wir sind alle … Hussiten gewesen, ohne es zu wissen.[27]
Als Luther wenige Tage später Ulrich von Huttens Edition der angeblichen Konstantinischen Schenkung von Laurentius Valla De donatione Constantini[28] in die Hand bekam und die Unechtheit der päpstlichen Urkunde erkannte, fügte sich für ihn eins ins andere. Am 24. Februar 1520 schrieb er:
Ich bin so in Ängsten, dass ich fast nicht mehr zweifle, der Papst sei recht eigentlich der Antichrist, den die Welt erwartet: so sehr passt hierzu all sein Leben, Tun, Reden, Beschließen.[29]
Luthers Fazit:
Lieber Gott, was ist das für eine Finsternis, eine Schändlichkeit, in der uns die Römlinge halten … Lauter unreine, widerwärtige, unverschämte Lügen sind an die Stelle von Glaubensartikeln getreten. Die Botschaft läuft auf diesen einen Satz hinaus: Ich habe inzwischen keinerlei Zweifel mehr, dass der Papst selber jener Antichrist ist, mit dem die Welt schon lange rechnen muss.[30]
Zu dieser Zeit fiel es Luther schwer zu begreifen, wie er je dem römischen Aberglauben anhängen konnte.[31]
Der endgültige Bruch mit Rom
Am 15. Juni 1520 wurde die päpstliche Bannandrohungsbulle Exsurge Domine veröffentlicht. Sollte Luther das Evangelium verraten oder das Martyrium erleiden? Er scheute den Konflikt nicht und kritisierte in seinen Schriften die Priester, die Sakramente und den antichristlichen Autoritätsanspruch des Papstes. Mit der demonstrativen Verbrennung der Bulle im Dezember 1520 vollzog er den endgültigen Bruch.[32] Eine Rückkehr unter die Oberhoheit des Papstes war ausgeschlossen. Der Papst verlor sein Monopol. Luther bekannte, sich über keine Tat in seinem Leben mehr gefreut zu haben. Die päpstlichen Schriften hätten mehr Gift enthalten, als er bis dahin geglaubt habe.[33] Am 3. Januar 1521 wurde Luther durch eine neue Papstbulle als Häretiker deklariert und exkommuniziert.
Natürlich gab und gibt es viele aufrichtige Christen innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Grundsätzlich aber hat sich die heutige Papstkirche nicht nur durch das Dogma der „Unbefleckten Empfängnis“ (Sündlosigkeit) Mariens (1854) und der Unfehlbarkeit des Papstes (1870) noch weiter von den Grundsätzen der Bibel entfernt als zur Zeit Luthers. Sie tritt zwar anders auf (man spricht von „Missverständnissen der Geschichte“ usw.), hat sich aber im Wesen nicht verändert (die Kirche hat selbst den Anspruch, semper eadem = stets dieselbe zu sein). So folgte z. B. auf die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung mit dem Lutherischen Weltbund 1999 nur ein Jahr später die Ankündigung eines vollkommenen Ablasses.
Wie sollten Christen heute darauf reagieren, wenn man von römischer Seite immer noch am Primat des Papstes und der Heilsnotwendigkeit der katholischen Kirche festhält? Die biblischen Aussagen lassen nur einen Schluss zu: Die reformatorische Identifikation des Antichristen hat auch in der Gegenwart nichts von ihrer Relevanz verloren!
Dr. Christoph Berger wirkte in den letzten sechs Jahren als Direktor und Dozent für Kirchengeschichte am Seminar Schloss Bogenhofen in Österreich und arbeitet seit September 2017 als Pastor im Raum Schwäbisch Hall.
Endnoten:
[1] Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter vom V. bis zum XVI. Jahrhundert, III:2, 67
[2] Willi Winkler, Luther: Ein deutscher Rebell (2016), 17
[3] Ibid., 19
[4] Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland (1939), 1:191
[5] Ellen G. White, The Great Controversy (1950), 124, 126, 128, 139, 142
[6] Tischreden 3, 3428, wohl aus den 1530er-Jahren
[7] Tischreden 3, 32016, Mai 1532
[8] White, The Great Controversy, 125
[9] Walter Eberhardt, Reformation und Gegenreformation (1973), 84
[10] Kurt Dietrich Schmidt, Kirchengeschichte (1990), 284
[11] Eberhardt, Reformation und Gegenreformation, 41
[12] Winkler, Luther: Ein deutscher Rebell, 172
[13] White, The Great Controversy, 126
[14] Winkler, Luther: Ein deutscher Rebell, 120f.
[15] Richard Friedenthal, Luther, sein Leben und seine Zeit, 207
[16] Ellen G. White, Der große Kampf, 128; Karl Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte (1981), 281
[17] Kurt Aland (Hg.), Luther Deutsch, 2:12
[18] Eberhardt, Reformation und Gegenreformation, 47
[19] Ibid., 52
[20] Daniel Heinz (Hg.), So komm noch diese Stunde! (2016), 58
[21] GEO Epoche Edition, Martin Luther und die Reformation (2009), 34f.
[22] Weimarer Ausgabe (WA) Briefe 1, Nr. 122, S. 270 (Brief an Wenzeslaus Linck vom 18.12.1518), in: Heinz, 58f.
[23] Heussi, 285
[24] Heinz, 194f.
[25] Johann G. Walch, Dr. Martin Luthers sämtliche Schriften, Bd. 15, Nr. 377, Sp. 948f., 979, 991, 1100
[26] Bruce L. Shelley, Church History in plain language, 241
[27] WA Briefe 2, Nr. 254, S. 22ff., 42 (Luther an Spalatin um den 14.2.1520), in: Ellen G. White, Vom Schatten zum Licht (2015), 132
[28] Gregorovius, 470; Arnold Becker, Ulrich von Hutten polemische Dialoge im Spannungsfeld von Humanismus und Politik, 175
[29] WA Briefe 2, Nr. 257, S. 22ff., 48
[30] WA Briefe 2, Nr. 257, S. 24, 48f., in: Winkler, 265
[31] Winkler, 265
[32] White, The Great Controversy, 124, 126, 128, 139, 142
[33] WA Briefe 2, Nr. 366, S. 234 (14.1.1521)