Von der Urgemeinde zum Papsttum


Warum die Reformation unvermeidlich wurde

Die protestantische Reformation wird in der Regel auf den 31. Oktober 1517 datiert – den Tag, an dem Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche nagelte. Die Thesen bestanden größtenteils aus Argumenten gegen den Verkauf von Ablassbriefen durch die Katholische Kirche, die dem Käufer bzw. einem Verstorbenen im Fegefeuer die Freisprechung von allen Strafen für ihre Sünden versprach. Sie forderten die Vertreter des Papsttums zu einer öffentlichen Debatte über die aufgeführten Punkte heraus.

Bahnbrechende Entwicklungen vor der Reformation

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Leo X. war Papst, als Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche nagelte. (Foto: Public Domain)

Zur Zeit der Reformation gab es nur eine offizielle christliche Kirche: die Katholische (d. h. „allgemeine“) Kirche. Die Reformatoren hegten anfangs nicht die Absicht, sich von der Kirche zu trennen oder neue Glaubensgemeinschaften zu gründen. Doch unter dem Einfluss des Heiligen Geistes konnten sie angesichts der Missstände in der Kirche nicht schweigen. Hätte das Papsttum diese Zurechtweisung angenommen und eine gründliche Reform durchgeführt, so wäre die „allgemeine Kirche“ noch heute vereint. Stattdessen wurde der Ruf nach einer Reform mit Uneinsichtigkeit und Gewalt beantwortet.

Die Reformatoren hatten keine Wahl: Sie mussten die Kirche verlassen, die keine Ähnlichkeit mehr mit der von Christus gegründeten Urgemeinde hatte. Wie kam es zu diesem Abfall in der Kirche? Dieser Artikel möchte einen kurzen Überblick über die vorherrschenden Zustände in der Kirche zur Zeit der Reformation geben, basierend auf dem Buch The History of the Reformation of the Sixteenth Century (Geschichte der Reformation im 16. Jahrhundert) von J. H. Merle d’Aubigné.

In vielerlei Hinsicht wiederholte sich in der Reformation das, was schon Jesus auf der Erde erlebt hatte. Als er seinen Dienst unter den Juden begann, stieß er frontal auf eine Priesterschaft, die ihre Vorrechte als Gottes Diener zum Wohl der Menschen zu weit getrieben hatte. Er tadelte sie für ihre zahllosen Regeln und Vorschriften, die das Volk hinderten, Gottes wahren Charakter zu erkennen. Er sagte:

Matthäus 15,9 Vergeblich aber verehren sie mich, weil sie Lehren vortragen, die Menschengebote sind.

Die Menschen waren so weit gekommen, dass sie dem sichtbaren Priester mehr Ehre erwiesen als dem unsichtbaren Gott. Die Priester hatten ihnen das Leben schwer gemacht und den Menschen religiöse Lasten aufgelegt, die unmöglich zu tragen waren, während sie selbst die Annehmlichkeiten des Lebens genossen. Jesus sagte:

Lukas 11,46 Wehe auch euch Gesetzesgelehrten! Denn ihr ladet den Menschen unerträgliche Bürden auf, und ihr selbst rührt die Bürden nicht mit einem Finger an.

Durch die vielen zusätzlichen Forderungen der Priester konnte das Volk gar nicht anders, als den Eindruck zu bekommen, Gott sei praktisch nicht zufriedenzustellen. Wer sich nach Erlösung sehnte, musste sich durch ein akribisches System von Vorschriften arbeiten. Den Juden wurde gesagt, um Gott zu gefallen, müssten sie erst ihren irdischen Herren, den Priestern, gefallen.

Jesus kam, um diese selbsternannten „Hirten“ abzusetzen und die Beziehung zwischen Gott und den Menschen wiederherzustellen – durch den Glauben, nicht durch menschliche Werke. Er sagte:

Matthäus 23,8 Einer ist euer Meister, der Christus; ihr aber seid alle Brüder.

Durch Christus Zugang zum Thronsaal Gottes

Als Christus am Kreuz starb, wurde der Vorhang im Tempel, der das Allerheiligste verbarg, durch eine unsichtbare Hand von oben nach unten entzweigerissen. Dies zeigte, dass die Menschen jetzt direkten Zugang zu Gott durch seinen Sohn Jesus Christus hatten und keinen irdischen Priester mehr als Mittler brauchten. Jesus hob mit seinem Tod das Opfersystem des Alten Testamentes auf, weil er jetzt selbst Hohepriester und Mittler zwischen Gott und den Menschen geworden war. Wie schon im Alten Testament das Volk Israel, waren jetzt auch die Gläubigen aus den nichtjüdischen Völkern ein „königliches Priestertum“ (1. Petrus 2,9), denn sie waren Mitarbeiter im großen Erlösungsplan des „König-Priesters“ Jesus Christus.

Epheser 2,14 Denn Er ist unser Friede, der aus beiden eins gemacht und die Scheidewand des Zaunes abgebrochen hat.

Der freie Zugang zum Thronsaal Gottes sollte also nicht auf Juden beschränkt sein. Als Jesus zum Himmel auffuhr, gab er seinen Jüngern daher den Auftrag:

Matthäus 28,19 So geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes

20 und lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Weltzeit! Amen.

Infolge dieses Auftrags verkündigten die Gesandten bzw. Apostel die gute Nachricht der Erlösung durch Glauben an Jesus Christus auch in heidnischen Ländern. Bis dahin verehrten die Bewohner nichtjüdischer Länder ihre heidnischen Priester als Götter. Die Verkündigung von Jesus Christus und der Erlösung durch den Glauben an Ihn setzte diese „lebenden Götzen“ ab, die das Volk durch Furcht vor der Strafe der Götter manipulierten und Erlösung zum Kauf anboten. Das Evangelium zeigte ihnen, dass Erlösung ein Geschenk des liebevollen Vaters im Himmel ist, das nicht durch gute Werke verdient werden kann. Die Apostel lehrten:

Epheser 2,8 Aus Gnade seid ihr errettet durch den Glauben, und das nicht aus euch – Gottes Gabe ist es.

Die Verkündigung des Evangeliums bedeutete Freiheit – Freiheit von Angst, von dem versklavenden Götzendienst und von launischen, fordernden Priestern.

Der Abfall

Eine Zeitlang erfreuten sich die christlichen Bekehrten an ihrer neuen Liebe zu Gott. Christus hatte die gute Nachricht der Erlösung als freies Geschenk Gottes verkündigt und den Menschen direkten Zugang zu Gott ermöglicht. Doch schon bald trübte sich der Glanz des Christentums. Die Kirche wurde weltlich, ihre Leiter korrupt. Im Lauf der Jahrhunderte machte das Papsttum praktisch alles rückgängig, was Christus bewirkt hatte, und brachte die Welt unter Roms Herrschaft.

Die äußere Kirchenorganisation verstand sich als exklusiver Leib Christi. Es entstand eine Hierarchie, die die Salbung des Heiligen Geistes von Christus auf den Papst, dann auf die Erzbischöfe, Bischöfe, Priester und zuletzt auf den „würdigen“ Gläubigen übertrug. Äußerliche Zurschaustellung und Zeremonien ersetzten die christlichen Tugenden, die wie Früchte ganz natürlich aus dem Glauben und der Liebe zu Gott wachsen.

Erlösung war kein Geschenk mehr, sondern eine Belohnung für die Befolgung von Vorschriften. Die Kirche ahmte das Vorbild des heidnischen Babylons nach und gründete eine „geistliche Oberschicht“ – den Klerus, der sich vom gewöhnlichen Volk unterschied und absonderte. Um sich noch deutlicher abzuheben, führte der Klerus heidnische Bekleidung für sich ein. Der Gedanke des Priestertums aller Gläubigen ging immer mehr verloren. Die Notwendigkeit der persönlichen Verbindung des Gläubigen mit Christus, so wie Weinstock und Reben miteinander verbunden sind, wurde mit der Anbindung der Kirchenglieder an die Kirche und den Papst ersetzt.

Auf diese Weise verdrängte die römische Kirche die biblische Lehre vom Priestertum aller Gläubigen. Das Volk verlor seinen Halt an Christus und suchte allein bei den immer verdorbeneren Hirten Wegweisung. Die Kirche geriet in eine lang anhaltende Zeit geistlicher Finsternis, die durch eine weitgehende Unkenntnis der Schrift sowie Laster und Verdorbenheit gekennzeichnet war.

Die Einigung von Kirche und Kaiserreich

Der römische Bischof hatte anfangs keine höhere Stellung als seine Brüder. Aufgrund seines vorteilhaften Standorts in der Nähe des Kaisers in der Hauptstadt Rom nahm er jedoch zunehmend die Rolle eines „großen Bruders“ ein. Mit der Zeit wurden aus dem brüderlichen Rat absolute Befehle.

Als das heidnische, altrömische Reich seinen Einfluss über die damalige Welt immer mehr verlor, gliederte der Bischof von Rom die Überreste des Reichs und dessen heidnische Religion in die Kirche ein, wodurch er an Macht gewann. Aus dem bröckelnden Reich griff er Elemente von dessen glorreicher Vergangenheit auf, die ihm Macht und Ehre verschaffen sollten. Neben religiösen Bräuchen und Festen, Gewändern und Symbolen gelangte der römische Bischof auf diese Weise auch zu seinem Titel Pontifex maximus (oberster Brückenbauer).

Der Aufstieg des römischen Bischofs über seine Brüder

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Die „Schlüssel Petri“ an einem katholischen Gebäude. Das Papsttum beansprucht den Besitz dieser Schlüssel.

Um die Vorherrschaft über seine Brüder zu stärken, stellte das Papsttum die Behauptung auf, Petrus habe unter den Aposteln Christi den Vorrang gehabt. Das stand im Widerspruch zu Jesu Aufforderung, die Apostel sollten einander dienen statt einem Vorgesetzten (siehe 1. Petrus 4,10). Es widersprach auch dem scharfen Tadel Jesu, als seine Jünger nach Vorherrschaft strebten. Jesu Unterweisung zu diesem Thema finden wir in Matthäus 20:

Matthäus 20,25 Ihr wisst, dass die Fürsten der Heidenvölker sie unterdrücken und dass die Großen Gewalt über sie ausüben.

26 Unter euch aber soll es nicht so sein; sondern wer unter euch groß werden will, der sei euer Diener,

27 und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht,

28 gleichwie der Sohn des Menschen nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.

Das „Petrusprimat“ und die „geerbten Schlüssel“ des Papsttums sind Erfindungen der römisch-katholischen Kirche, um – entgegen den Anweisungen Jesu – ihren Anspruch auf Vorherrschaft zu untermauern. Politische und wirtschaftliche Unruhen bahnten ehrgeizigen Menschen den Weg, sich selbst zu Regenten über die Gemeinde Gottes aufzuschwingen. Schritt für Schritt, die kleinen Gelegenheiten nutzend, übernahm das Papsttum die Vorherrschaft des einstigen Römischen Reiches und baute daraus ein neues „Heiliges Römisches Reich“. Unter den weltlich gesinnten Klerikern kam es immer wieder neu zu Kämpfen um das Bischofsamt in Rom.

Ein irdisches Reich

Der Petrusstuhl ähnelte schon bald den begehrten weltlichen Thronen irdischer Königreiche. Die Geschichte berichtet, wie oft Päpste von Adeligen oder säkularen Herrschern ernannt wurden oder dieses Amt durch Bestechung und Mord erlangten. Oft stammten die Päpste selbst aus adeligen Familien und stärkten die Macht der Oberschicht. Zuweilen beanspruchten mehrere Päpste das Recht auf den „Heiligen Stuhl“. Im Mittelalter versank die kirchliche Hierarchie in derart tiefer Unmoral, dass Kirchenhistoriker die Jahre 904 bis 963 aufgrund der skandalösen Umstände bei den Papstwahlen als „Pornokratie“ oder „Mätressenherrschaft“ betiteln.

Doch das war nicht das Ende der Verdorbenheit. So wurde z. B. im Jahr 1033 ein zwölfjähriger Junge von den toskanischen Grafen auf den Thron gesetzt und Benedikt IX. genannt. Er wuchs zu einem homosexuellen Mörder heran. Die Konkurrenz ernannte Sylvester III. zum Nachfolger des Petrusstuhls. Benedikt IX. verkaufte das Papsttum später an einen römischen Kirchenmann. Im Jahr 1046 waren schließlich drei Päpste an der Macht.

Tradition ersetzt die Schrift

Die apostolische Urgemeinde hielt die Heilige Schrift in großen Ehren. Unter der Herrschaft des Papsttums jedoch geriet die Bibel aus dem Blickfeld, weil ihre Lehren durch Traditionen ersetzt wurden. Im Mittelalter waren Volk und Geistlichkeit gleichermaßen unwissend über die Schrift. Statt der biblischen Wahrheit wurden Irrlehren eingeführt. Das ging so weit, dass wesentliche Teile des Mithraskultes, einer im Römischen Reich beliebten Form der Sonnenanbetung, durch die Kirche ins Christentum eingeschleust wurden. Hier einige Beispiele für unbiblische Lehren, die von der römisch-katholischen Kirche „christianisiert“ (verchristlicht) worden sind:

  1. Die Sonntagsheiligung
  2. Die Transsubstantiation
  3. Das Priester-Zölibat (Eheverbot)
  4. Die Bußübungen (z. B. Fasten, Barfußgehen und Selbstgeißelung)
  5. Der Ablasshandel
  6. Das Fegefeuer
  7. Die Ohrenbeichte
  8. Die Unfehlbarkeit des Papstes

Die Zeit ist reif für die Reformation

Zu welchem Ergebnis führte dieser Abfall der Kirche von Christus und seinem heiligen Wort? Auf Ungehorsam gegenüber Gottes Forderungen folgt stets Unmoral. Der Ablasshandel, der Luther zu seinem öffentlichen Protest in Wittenberg veranlasste, war der Inbegriff des kirchlichen Abfalls von der Gnade. Die Lehre der Selbstkasteiung und des Ablasses wurden von einigen als päpstlicher Freibrief zur Sünde angesehen. Nicht nur der Laienstand führte ein ausschweifendes Leben. Die Verdorbenheit der Geistlichkeit wurde als selbstverständlich betrachtet. Ihr zuchtloses Verhalten zwang die Zivilbehörden, entsprechende Gesetze zu erlassen. Die Menschen sahen, dass die Kirchenleitung nicht besser war als die schlimmsten Sünder. Priester, Bischöfe und Päpste wurden verspottet und verlacht.

Wie könnten derart verdorbene Hirten ihrer Herde den Weg der Erlösung zeigen? Jeder denkende Mensch wusste: Das war unmöglich! Die Zeit war reif für die Reformation.