2017 – und dann?


martin_luther_1529Wittenberg, wir schreiben den 31. Oktober 1517. Der Feiertag Allerheiligen steht bevor. Die Stadt ist voller Besucher, sie möchten am nächsten Tag die Reliquien-Austellung in der örtlichen Schlosskirche besichtigen, von der sie sich nach damaligem Glauben die Vergebung ihrer Sünden erhoffen. Gegen Abend begibt sich der Theologe Martin Luther zur besagten Kirche. Niemand weiß von seinem Vorhaben. Entschlossen nagelt er 95 Thesen an ihre Tür …

Kaum waren diese Thesen an der Tür der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen, hallten ihre Hammerschläge auch schon in ganz Deutschland wieder. Sie verbreiteten sich in Windeseile und erregten ein unglaubliches Aufsehen. Schnell wurden sie in andere Sprachen übersetzt und gelangten in kürzester Zeit in beinahe alle christlichen Länder. Tausende von Menschen wurden aus dem Schlaf des Aberglaubens und der Unwissenheit geweckt. Die Thesen waren der zündende Funke der Reformation. Doch was stand in Luthers Thesen, dass sie derartige Auswirkungen hatten?

Die protestantische Reformation drang bis nach Rom vor, wo sie die Grundfesten des Papsttums, der damals mächtigsten europäischen Institution, erschütterte und seine Krone ins Wanken brachte. Tausende Menschen verließen die römisch-katholische Kirche und gründeten eine protestantische Kirche. Was bewegte sie dazu? Gegen was protestierten sie?

Fünf Jahrhunderte sind seit Luthers Thesenanschlag vergangen. Spielt die Reformation heute noch eine Rolle? Was hat unsere moderne Gesellschaft der Reformation zu verdanken? Und wohl die wichtigste Frage: Was hat die Reformation mit mir zur tun?

Eine Zeit des Umbruchs

Um die Reformation zu verstehen, müssen wir sie vor der Leinwand des 15. und 16. Jahrhunderts betrachten. Es war eine Zeit des Umbruchs. Christopher Kolumbus entdeckte Amerika; die Erfindung der Buchdruckerkunst ermöglichte bedeutende Fortschritte in der Informationsvermittlung, Magellan umrundete die Erde. Das Heilige Römische Reich bestand aus zahlreichen Kleinstaaten und freien Städten, die von ihren eigenen Fürsten regiert wurden. Folglich besaß der deutsche Kaiser nur eingeschränkt politische Macht, bedeutend mächtiger war der politische Einfluss der Geistlichkeit. In der klar abgegrenzten, sozialen Hierarchie brodelte es: An der Spitze stand die Geistlichkeit, gefolgt vom Adel, dem das Volk diente, das zum Großteil aus unterdrückten und verarmten Bauern bestand. Bildung war den reicheren Stadtbewohnern vorenthalten, auf dem Land gab es so gut wie keine Schulen.

Die Angst vor dem Tod

Die Medizinversorgung im Mittelalter war mangelhaft und nicht nur die Pest raubte vielen Menschen das Leben. Die Angst vor dem Tod war allgegenwärtig. Mit ihr kam die Angst vor der Hölle und dem göttlichen Gericht. Die Menschen sehnten sich nach der Vergebung ihrer Sünden und der Gewissheit, Frieden mit Gott zu haben. Hier fand die korrupte Kirche fruchtbaren Boden und bot das Heil zum Kauf an. Gegen Geld konnten Ablassbriefe und andere kirchliche Leistungen erworben werden, die den Menschen die Vergebung ihrer Sünden und nach dem Tod den direkten Zugang zum Himmel statt des Zwischenaufenthalts im gefürchteten Fegefeuer versprach – ein einträgliches Geschäft für die Kirche. Doch schon der Apostel Petrus stellte klar, dass die Gabe Gottes nicht mit Geld erworben werden kann (Apostelgeschichte 8,20).

johann-tetzelDer Ablassprediger Johann Tetzel trieb seinen Handel unter dem Motto voran: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.“ Einige Male soll ihm sein Geldkasten von Rittern geraubt worden sein, die sich am Tag zuvor bei ihm einen Ablasszettel dafür gekauft hatten und so praktisch „immun“ gegen die Höllenstrafe für diese Tat waren.

Eine abgefallene Kirche

Mit dem Geld, dass den verarmten Bauern für kirchliche Leistungen abgepresst wurde, führten die Geistlichen ein luxuriöses, ausschweifendes Leben. Unter dem Deckmantel der Frömmigkeit praktizierten sie jede denkbare Art der Unmoral. Die katholische Kirche konnte sich wohl kaum noch christlich nennen und hätte moralisch nicht tiefer sinken können.

Die Bibel war großteils ein verbotenes Buch, denn sie hätte den Abfall der Kirche aufgedeckt. Wer sie besaß, riskierte sein Leben. Sogenannte Ketzer, die anderer Meinung waren, wurden durch Folter, Scheiterhaufen und andere grausame Methoden zum Schweigen gebracht. Auf dem Konto der Kirche steht der Tod Millionen Andersgläubiger verbucht.

An die Stelle Christi hatten sich Papst und Priester gesetzt; anstelle der Bibel boten sie dem Volk Rituale und Aberglauben; anstatt auf Gottes Gnade zu vertrauen sollten sich die Menschen ihr Seelenheil mühsam erarbeiten oder erkaufen.

Eine Reformierung dieser Zustände und die Rückkehr zum ursprünglichen Bibelglauben waren bitter nötig. Etwa ein Jahrhundert zuvor hatten John Wyclif in England und Jan Hus in Böhmen bereits den Weg für die Reformation geebnet, doch sie wurden als Ketzer verbrannt. Jetzt aber war die Zeit reif.

Luther tritt auf die Bühne

In seinen Thesen räumte Luther zunächst mit dem Ablasshandel auf. Das war ein massiver Angriff gegen das Hauptgeschäft der Kirche und durfte so nicht stehenbleiben. Weitere Schriften folgten, deckten Misstände auf und rückten sie ins Licht der Bibel. Es dauerte nicht lang und Luther wurde der Kirchenbann angedroht, sollte er seine Schriften nicht widerrufen. Und wie er widerrufen wollte:

„Mein Widerruf wird also lauten: Ich habe früher gesagt, der Papst sei der Statthalter Christi, jetzt widerrufe ich und sage, der Papst ist der Widersacher Christi.“ (Der große Kampf, S. 151)

Kurz darauf wurde er zum Reichstag nach Worms berufen, um sich dort vor Kaiser, Kirche und Reich zu verantworten. Als er aufgefordert wurde, seine der Kirche so unangenehmen Aussagen und Schriften zurückzuziehen, sprach er die berühmten Worte:

„Mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, dass sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen.“

Die Bibel für das Volk

wartburg_eisenachDer Kaiser verhängte die Reichsacht über ihn, Luther war jetzt vogelfrei. Auf seiner Heimreise wurde er von Freunden auf die Wartburg entführt, bevor Feinde seiner habhaft werden konnten. Dort übersetzte er das Neue Testament ins Deutsche, bald sollte auch das Alte Testament folgen. Die Bibel in der Sprache des Volks – nichts fürchtete Rom mehr. Dem einfachsten Bauernkind waren Gottes Worte jetzt zugänglich.

„Wenn dein Wort offenbar wird, so erfreut es und macht klug die Unverständigen.“ (Psalm 119,130 Lu84)

Die Menschen wachten aus Irrtum und Unwissenheit auf und schüttelten die Ketten des Aberglaubens ab, mit denen die katholische Kirche sie unterdrückt hatte. Die weite Verbreitung der Bibel prägte die deutsche Sprache und legte die Grundlage für unser heutiges Hochdeutsch. Jetzt, wo das Wort im Mittelpunkt stand, war auch eine Bildungsreform notwendig. Alle sollten die Bibel lesen und verstehen, sich eine eigene Meinung bilden können. Keinem sollte der Zugang zu Wissen und Erkenntnis versperrt bleiben. Vor allem Philipp Melanchthon, Luthers engster Freund, reformierte das Schul- und Universitätswesen grundlegend. Dass heute jedes Kind die Schule besuchen und lesen, schreiben und rechnen lernen kann, haben wir zu einem Großteil der Reformation zu verdanken.

Wissenschaft und Gesellschaft blühen auf

Mit dieser Aufklärung und Bildungsreform konnten die Menschen sich jetzt selbst Wissen aneignen und schon bald nahmen technische Erfindungen und wissenschaftliche Entdeckungen rasant zu. Auch Gesellschaft und Wirtschaft blühten auf. Durch die bessere Schuldbildung prägte sich im Volk die Mittelklasse verstärkt aus. In den folgenden drei Jahrhunderten wurden Dampfmaschinen und Mikroskope, Taschenuhren, Fallschirme, Fernrohre und Telegraphen erfunden. Paracelsus reformierte die Medizin, Galileo Galilei führte bahnbrechende naturwissenschaftliche Forschungen durch, Isaac Newton entdeckte die Schwerkraft, Johannes Kepler die Gesetze der Planetenbewegung, Andreas Vesalius veröffentlichte wegweisende Erkenntnisse über die Anatomie des menschlichen Körpers – um nur einige zu nennen.

Grundwahrheiten der Reformation

Die Reformation brachte den großen Grundsatz wieder ans Tageslicht, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Kein Priester, Bischof oder Papst durfte sich mehr zwischen Schöpfer und Geschöpf drängen.

„Einer ist euer Meister, der Christus, ihr aber seid alle Brüder.“ (Matthäus 23,8)

Was der Kirche in Jahrhunderten des Abfalls verloren gegangen war, richtete die Reformation im Licht der Bibel wieder auf. Diese Grundwahrheiten lassen sich in den sogenannten vier Exklusivpartikeln der Reformation zusammenfassen:

Sola scriptura – Allein die Schrift
„Dein Wort ist die Wahrheit“ (Johannes 17,17). Die Bibel erklärt sich selbst, sie ist einzige Glaubensgrundlage (Römer 10,17) und bedarf keiner Ergänzung.
Sola fide – Allein aus Glauben
„Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Römer 1,17, siehe auch 3,28). Gott macht uns nicht gerecht, weil wir etwa so gute Menschen seien, sondern weil wir Ihm glauben, dass Er es tut und uns gerecht erhalten kann.
Sola gratia – Allein aus Gnade
„Denn aus Gnade seid ihr errettet durch den Glauben, und das nicht aus euch – Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme“ (Epheser 2,8-9). Wir können uns die Erlösung nicht verdienen oder erkaufen, sie ist ein Geschenk Gottes, das wir empfangen, wenn wir es nur glauben.
Solus Christus – Allein Christus
„Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Jesus Christus“ (1Timotheus 2,5). Kein Mensch kann Sünden vergeben oder erlassen. Allein durch Christus kann ein Mensch Erlösung empfangen.

Geburtsstunde des Protestantismus

Die Reformation zog Kreise in Deutschland und im Jahr 1526 gewährte der Reichstag in Speyer allen deutschen Teilstaaten befristet völlige Religionsfreiheit. Nur drei Jahre später wurde ein weiterer Reichstag einberufen, der die reformatorische Ketzerei vernichten sollte. Ein Mehrheitsbeschluss hob den Erlass von 1526 auf und forderte die Rückkehr zur Glaubenspraxis der katholischen Kirche. Sechs deutsche Fürsten und vierzehn Reichsstädte bekannten sich jedoch zur Reformation und verfassten eine Protestationsschrift gegen diesen Beschluss. Darin hieß es:

„Wir protestieren durch diese Erklärung vor Gott, unserem einigen Schöpfer, Erhalter, Erlöser und Seligmacher, der einst uns richten wird, und erklären vor allen Menschen und Kreaturen, dass wir für uns und die Unsrigen in keiner Weise dem vorgelegten Dekret beipflichten oder beitreten, und allen den Punkten, welche Gott, seinem heiligen Worte, unserem guten Gewissen, unserer Seligkeit zuwiderlaufen“ (Der Große Kampf, S. 202).

Der Protest der deutschen Fürsten auf dem Reichstag zu Speyer im Jahr 1529 war die Geburtsstunde des Protestantismus. Er fasste „die wesentlichen Inhalte des Protestantismus in Worte und stellt die Autorität von Gottes Wort über die sichtbare Kirche, die Macht des Gewissens über weltliche Behörden.“

„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5,29).

„Der Mut, Glaube und die Entschlossenheit dieser Gottesmänner bahnten zukünftigen Zeitaltern den Weg zu Glaubens- und Gewissensfreiheit.“ (Der Große Kampf, S. 204, 197)

Ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir heute frei unsere Meinung äußern und eine Religion nach Wahl ausüben dürfen.

„Die protestantischen Reformatoren hatten auf Christus gebaut und selbst die Pforten des Totenreiches konnten sie nicht überwältigen.“ (Der Große Kampf, S. 210)

500 Jahre später …

… feiert die Christenheit im Jahr 2017 das 500-jährige Reformationsjubiläum. Unsere Welt sieht heute ganz anders aus. Wir leben in einer Zeit, in der fast alles möglich und erlaubt ist. Ist das Reformationsjubiläum nur die Erinnerung an einen Mann, der seine Kirche revolutionieren wollte? Oder ist Protestantismus noch immer aktuell?

Der Jesuit Eduard Kimman, Generalsekretär der niederländischen Bischofskonferenz, sagte 2008:

„Es gibt nur noch wenig Gründe dafür, Protestant zu sein. Ich bezweifle, dass der Protestantismus es bis ins Jahr 2017 schaffen wird, 500 Jahre nach der Reformation … Die römisch-katholische Kirche hat sich geändert. Die Protestanten sollten zu ihrer Mutterkirche zurückkehren.“

Hat sich die katholische Kirche wirklich geändert? Bis heute besteht sie noch immer auf ihrem Anspruch der Unfehlbarkeit und hat ihre 33 Anathemata (Bannflüche) aus dem Konzil zu Trient gegen alle, die der protestantischen Lehre folgen, nicht aufgehoben. Das sollte zu denken geben.

„Nicht ohne Grund wurde in protestantischen Ländern die Behauptung aufgestellt, der Katholizismus unterscheide sich nicht mehr so sehr vom Protestantismus wie früher. Sicher hat sich manches geändert, allerdings nicht das Papsttum. Der Katholizismus ähnelt in der Tat dem heutigen Protestantismus, weil dieser seit der Reformation so zerfallen ist.“ (Der Große Kampf, S. 572)

1999 unterschrieben führende Vertreter der katholischen und lutherischen Kirche die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ in dem Versuch, die verschiedenen Erlösungsansätze der beiden Kirchen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Das Dokument lehrt Rechtfertigung nicht durch Christus allein, sondern durch die Sakramente der Kirche. Der episkopale Bischof Tony Palmer bezog sich 2014 auf diese „Gemeinsame Erklärung“ und verkündete:

„Luthers Protest ist zu Ende. Gibt es ohne Protest noch eine protestantische Kirche? Vielleicht sind wir jetzt alle wieder katholisch.“

„Auf das sie alle eins seien …“ (Johannes 17,21) – ist Ökumene nicht der Wunsch Christi für alle seine Nachfolger? Streben nicht die meisten Kirchen und Religionen trotz unterschiedlichster Bekenntnisse und Erlösungsansätze nach Ökumene? Viele Wege führen nach Rom, doch nur ein Weg führt zum Vater – „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater als nur durch mich“, spricht Jesus (Johannes 14,6).

Christus bat nicht nur um die Einheit seiner Nachfolger, sondern erklärte gleich, auf welcher Grundlage diese Einheit allein bestehen kann:

„Heilige sie in der Wahrheit, dein Wort ist die Wahrheit.“ (Johannes 17,17).

Wahre Ökumene kann nur auf der Grundlage der Wahrheit des Wortes Gottes bestehen. Heute ist mehr denn je eine Rückkehr zu dem großen Grundsatz des Protestantismus nötig – allein die Schrift als Grundlage für Glaube und Praxis.

„Die Reformation endete nicht mit Luther. Bis ans Ende der Weltgeschichte soll sie fortgesetzt werden. Luther hatte eine große Aufgabe darin, das Licht, das Gott auf ihn leuchten ließ, an andere weiterzugeben. Doch er empfing nicht alles Licht, das der Welt noch gegeben werden sollte. Bis in unsere heutige Zeit strahlt ständig neues Licht aus der Schrift und werden neue Wahrheiten offenbart.“ (The Great Controversy, S. 148; vgl. Der Große Kampf, S. 148)